Schnell – langsam – schnell

Allgemein

Morsezeichen? Sonatenhauptsatzform? SOS? Also immer, wenn ich das sehe, wird mir schwarz vor dem inneren Auge, wenn ich es mache auch gelegentlich vor dem äußeren. Es geht um Intervalle. Intervalltraining. Um genau zu sein ist es eher so: langsam – schnell – langsam – schnell – langsam – schnell –langsam – schnell … – langsam – fertig. Das beste daran ist: fertig! Alles davor ist meist grausam. Außer das erste Langsam. Das zögere ich nach bewährter Manier gern so weit wie möglich hinaus.

Es geht beim Intervalltraining darum, Geschwindigkeit zu trainieren, Bewegungsabläufe zu optimieren, die anaerobe Schwelle nach oben zu setzen, den Puls zu verlangsamen und zu leiden. Man könnte meinen, 12 mal 400 Meter schafft man. Vor allem, wenn man immer eine Minute Pause dazwischen hat. Das Blöde ist nur, ich muss diese 400 Meter ganz schön schnell rennen. Und wenn man schonmal versucht hat, einen 400 Meter Läufer zu interviewen, hat man sicherlich gemerkt, dass man da mal besser 4 bis 5 Minuten nach dem Zieleinlauf wartet. Zumindest, wenn man Antworten haben möchte.

Dadurch, dass man da so schnell läuft, verbraucht man mehr Sauerstoff als man einatmen kann. Man zwingt die Muskeln also mit zu wenig Sauerstoff auszukommen. Ich merke das an sehr schneller Atmung, brennenden Muskeln und schnell langsamer werdendem Tempo. Diese extreme Muskelbelastung kann man nur 400 m durchhalten danach ist es vorbei. Dann hat der Körper einen Milchsäureüberschuss, der abgeatmet werden muss und eine Sauerstoffschuld, die nachgeatmet werden muss. Deshalb ist es ratsam, mit 400 Meter Läufern erst nach einer gewissen Zeit zu reden.

Marathonläufer können direkt im Ziel fröhlich parlieren. Das ist komisch. Aber leicht zu erklären. 400 Meter läuft man anaerob, einen Marathon tunlichst ausschließlich im aeroben Bereich. Es sei denn, man will bei KM 3 eh aussteigen, dann kann man am Anfang natürlich Gas geben wie ein 400 Meter Läufer. Macht sicher was her, 500 Meter mit den Top-Athleten mitzulaufen und dann keuchend aufzugeben. Das werde ich irgendwann mal probieren. Ich erzähle dann, wie es war.

Der erste Kilometer beim Marathon ist ja wirklich extrem wichtig. Man muss da sein Tempo finden. Nein, man muss sein Tempo haben, von der Startlinie an. Und zwar am besten auf die Sekunde genau. 3 Minuten 55 Sekunden pro Kilometer. Nicht 3:56 und auch nicht 3:54. Es ist erstaunlich, dass man dazu eigentlich in der Lage ist. Man ist auch mit zuverlässiger Regelmäßigkeit nicht dazu in der Lage. Vor allem bei dem Lauf der Läufe versagt oft die Vernunft, die Disziplin und das Wissen. 3:45 den ersten Kilometer. Super. Schon 10 Sekunden gewonnen. Weiter so. Bei dieser Pace ist allerdings bei Kilometer 21 Schluss.

Der erste Kilometer kann alles kaputt machen. Muss es aber nicht. Ich hatte schon 3:35 am ersten Kilometerschild und habe trotzdem nach der Besinnung die restlichen 41, 196 Kilometer in einer vernünftigen Zeit absolviert. Aber das kann auch sehr schief gehen. Deshalb trainiere ich Tempo und das Hochstellen der anaeroben Schwelle. Denn je höher diese Schwelle ist, desto schneller kann ich den Marathon laufen.

Intervalle. Das sind die bis zu zweimal pro Woche auftretenden Terroreinheiten. 12 mal 400 Meter, 8 mal 1.000 Meter, 5 mal 2.000 Meter, 35 mal 200 Meter, 3 mal 5.000 Meter und so weiter. Intervalle macht man auf der Laufbahn. Auf der mit dem roten Gummibelag und den Linien drauf. Die sind manchmal offen, meistens jedoch zu und mit einem Wärter oder einer Wärterin angereichert. Mit diesen sollte man sich gutstellen. Natürlich könnte ich rüberklettern, aber einmal entdeckt und vertrieben wäre es das für immer. Ich gehe zum Wärter hin, erkläre meine Not und frage. Zumeist klappt das, es sei denn, es sind Bundesjugend- oder Fußballspiele.

Ein Päckchen Kaffee oder zwei stützen die langjährige Freundschaft. Das respektvolle Befolgen der gelegentlichen Verweigerung aus fadenscheinigen Gründen ohne Diskussion ebenfalls. Die Beziehungen zwischen Wärter und Sportler sind zarte Pflänzchen, die bei nachlässiger Pflege schnell verwelken. Bei unverwelkter Liebe öffnet sich zumeist das Tor wie von Geisterhand und macht den Weg frei für den Gladiator. Unter Geschrei der fanatischen Fans begibt er sich gut aufgewärmt auf die Bahn, stellt seine Uhr auf null und rennt los.

Das erste Intervall und … geht doch! Dann die sogenannte Trabpause. Wohlverdient und viel zu kurz. Je kürzer die Intervalle, desto kürzer auch die wohlverdienten Pausen. Bei 400 Metern etwa eine Minute, bei 2.000 Metern vielleicht so 4 bis 6 Minuten, bei 5.000 Metern 10 Minuten. Je länger die Intervalle, desto langsamer das Tempo und desto länger die Pausen. 12 mal 400 Meter in 80 Sekunden mit je einer Minute Trabpause dazwischen sind also härter, als 3 mal 5.000 Meter im Marathontempo mit 10 Minuten dazwischen.

Blutgeschmack im Mund hatte ich, als ich angefangen habe, zwanghaft zu trainieren. Mit zunehmendem Alter und gewonnener Erfahrung lies das irgendwann nach. Dieses Gefühl, zu ersticken blieb bis heute. Anaerob, also ohne Luft. Es gibt Verrückte, die eine Atembehinderungsmaske aufsetzen, um zu laufen. Sie simulieren also Sauerstoffmangel oder Höhentraining unter Inkaufnahme von Erstickungsgefühlen. Mir reicht es, wenn ich beim elften von zwölf 400 Meter Intervallen bei 29 Grad und 85% Luftfeuchtigkeit bin und selbst mit größtem Willen das Tempo nicht recht halten kann.

Ich frage mich, warum meine kreischenden Fans auf der Tribüne plötzlich alle verschwunden sind. Vermutlich wollten sie das Gekeuche nicht weiter mitanhören. Oder ging ihnen mein glutrotes Gesicht auf die Nerven? Oder haben sie den Schwindel bemerkt, dass ich gegen Ende der Intervalle immer langsamer werde? Wie dem auch sei. Auch diese Terroreinheit ist irgendwann vorbei. Es bleibt die Erleichterung, die Hoffnung auf keinen Muskelkater und die Freude über einen Ruhepuls von 42. Aber erst in 48 Stunden wieder.

Laufen lernt man durchs Laufen

Allgemein

Technik wie in Wirklichkeit war früher das Größte für mich. Lego mit Zahnrädern, Achsen, Rädern, Flaschenzügen, Hebeln und so. Alles, was sich bewegt oder gar fortbewegt hat. Es war schwierig zu bauen, aber wenn es erstmal fertig war, stand ich vor einem Wunderwerk und traute mich kaum, damit zu spielen. Technik fasziniert mich bis heute. Außer beim Laufen.

Laufen lernt man durchs Laufen. Das sagen die sehr alten Hasen und haben damit wie immer recht. Zum Teil. Natürlich ist Laufen das Ursprünglichste des Menschen überhaupt. Genetisch implantiert, durch Evolution perfektioniert und das Selbstverständlichste überhaupt. Wären da nur nicht die Sekunden, die zwischen himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt entscheiden. 2:45:59 ist okay, 2:46:00 nicht, um es nochmals auf den Doppelpunkt zu bringen.

Schnell wird man durch viel Laufen, durch schnell Laufen und durch gut Laufen. Gut Laufen lernt man durch Technik- und Koordinationstraining, durch Stabilitäts- und Krafttraining lernt man lange gut zu laufen. Technik zeigt sich also in der Wirklichkeit durch Schnelligkeit. Wie beim Lego. Ist ein Zahnrad falsch gesetzt dreht es sich schwer, langsam oder im schlimmsten Fall falsch rum. Dieser Extremfall kommt selbst bei schlechter Lauftechnik allerdings selten vor.

Wie setzt man aber alle Rädchen in der Tempomaschine richtig zusammen? Man hüpft zum Beispiel wie ein 12-jähriges Mädchen, das sich gerade unsterblich in den Klassenclown verliebt hat. 60 Sekunden, keine Sekunde länger und vor allem möglichst unbeobachtet. Es fällt in einer Großstadt nicht immer leicht, 60 Sekunden Hüpferlauf zu machen, ohne gesehen zu werden. Wenn es dann doch passiert muss man mit äußerst ernster Miene dauernd auf die Laufuhr starren und so tun, als sei dies absolut ernste Wissenschaft. Der Hundehalter hat oft Verständnis dafür, sein Begleiter tänzelt meist etwas nervös umher. Okay, diese 60 Sekunden sind geschafft, aber es folgen noch mehr Übungen.

Anfersen geht so: Man läuft mehr oder weniger auf der Stelle und haut sich bei jedem Schritt mit der Ferse in den Hintern. Weitere 60 Sekunden Unbeobachtetheit sind hier von Vorteil. Für die nächsten und letzten 60 Sekunden muss ich dann noch die Oberschenkel bei jedem Schritt in die Waagrechte heben und ebenfalls kaum vom Fleck kommen. Diese Übung sieht noch einigermaßen athletisch aus, so dass man sie für bevölkerungsreiche Abschnitte wählen kann.

Den Kasper könnte ich noch in zahlreichen anderen Übungen zur Perfektion bringen, mir ist es aber ehrlich gesagt meistens sehr recht, wieder in den normalen Laufschritt übergehen zu können.

Das ist also Technik in Wirklichkeit. Koordination. Die Fachleute versprechen mir, dadurch Geschwindigkeit zu gewinnen. Aber mindestens zweimal pro Woche muss man das Programm schon machen. Ins Training eingestreut. Das ist eins von vielen Elementen des Trainings. Manchmal muss ich konzentriert überlegen, ob ich nicht ein Elemnt ganz vergessen habe.

Als Marathonläufer, der deutlich unter 3 Stunden laufen will, muss ich Technik, Koordination, Kraft, Stabilität und Psyche trainieren. Und das alles neben den 120 Kilometern reinem Lauftraining. Das alles für den einen Lauf. Den Lauf der Läufe. Den, der in 165 min vorbei sein soll. Das ist dann wie bei meinem Lego-Auto mit Getriebe und sich bewegenden Kolben. 2 Wochen zusammengebaut, 3 Minuten gefahren und dann in einem Wutanfall an die Wand geworfen.

Nach dem Marathon ist vor dem Marathon.

LSD an der Isar

Allgemein

29 Kilometer erscheinen auf den ersten Blick betrachtet vielleicht viel. Im Marathontraining ist es erst der Anfang. So als fleißig Trainierender hat man manchmal das Problem, Reisen und Training unter einen Hut zu bringen. Die Taufe der Nichte muss also mit 29 Kilometern LSD in Einklang gebracht werden. Das geht meistens gut. Auch wenn es fast immer zusätzlichen Stress bedeutet, in unbekanntem Terrain 29 km zu finden. Flüsse sind da oft eine gute Wahl, denn wo es flussaufwärts geht, geht es auch wieder flussabwärts. Der Abwechslung wegen auch gern am anderen Ufer. Allerdings bin ich als Nicht-Triathlet auf Brücken angewiesen. Die gibt es aber nicht wie Sand am Meer sondern eben wie Brücken am Fluss und können die geplante Strecke deutlich verlängern.

Die Verlängerung der Strecke blieb gestern aus, die reichen Isarstädter bauen genug Brücken. Außerdem war ich da schonmal unterwegs. Schön dort und alle sind so freundlich. Ordentlich angezogen. Gewaschen. Duftend. Ich frage mich, ob sie vor und nach der sportlichen Betätigung duschen. Bei Frauen scheint es auch üblich zu sein, sich vor dem Sport zu schminken. In München. Vielleicht hat meine Wahrnehmung aber auch mit dem LSD auf nüchternen Magen zu tun.

Also. Früh aufstehen, drei Gläschen Wasser und los. Bloß keine Kohlenhydrate. Am Abend vorher noch schön Fettkruste vom zarten Schweinsbraten genascht, viel zu viel Zucker nachmittags und auch leider vom guten Wein nicht gelassen. Auch bin ich vorwiegend rumgestanden. Nachts konnte nicht das ganze Zellwasser zurückgepresst werden. Das macht sich in zunächst etwas schwerfälligen Schritten bemerkbar. Das ist aber noch gar nichts im Vergleich zu der Schwerfälligkeit am Ende, wenn ich zu 100% „auf Fett“ laufen werde. So bis Kilometer 14 geht alles wie von selbst. Die Psyche läuft mal wieder mit, dieses Mal ist es so, dass ich mich ja auf 28 Kilometer eingestellt habe, deswegen ist bei 14 Bergfest und da suggeriert mir mein Hirn: „Hälfte vorbei, das geht doch.“

Warum nur keine Kohlenhydrate? Bis Kilometer 14 habe ich noch reichlich in den Speichern. Leber und Muskeln speichern ja welche. Doch nach so einer Stunde ungefähr verlangsamen sich meine Schritte oder zumindest fühlt es sich so an. Es bedarf viel mehr Anstrengung, das Tempo aufrecht zu erhalten. Doch glücklicherweise gibt es Richtung Münchner Innenstadt einiges zur Ablenkung. Einen Zoo, geschminkte Powerwalkerinnen  und durchaus pittoreske Flussimpressionen. Nur nicht dem Aua zu viel Aufmerksamkeit schenken. LSD ist super. Man soll ja auch langsam laufen. Es kann also eigentlich auch gar nicht weh tun. Es soll nicht weh tun. Man soll also psychisch optimiert dahingleiten. Die Droge LSD lässt einen schweben.

Die Uhr zeigt mir den Umdrehpunkt, jetzt ist es schon ein Halbmarathon. Geht. Vor allem glücklicherweise aufs Ende zu. Das Wetter ist sensationell, wie der Münchner sagt. Sonnig, kühl und windstill. Ja, Wind kann schon sehr nerven. Als Ersatz für Wind geht es jetzt flussaufwärts. Ganz leicht nur. Flussaufwärts in München ist anders als flussaufwärts in Bern. Dennoch schleichend und deswegen umso bösartiger. Die Kilometer 21 bis 28 sind schlagartig drogenbefreit. Die Realität holt mich ein. Ich will Marmeladebrötchen. Aus Weißmehl. Oder am besten erstmal einen Löffel Zucker oder zwei. Esslöffel. Der Mensch ist doch so gut konstruiert, warum macht man es sich absichtlich schwer? Statt Trinkgürtel mit Batterien von Wasser-Shots könnte ich doch ein paar Tütchen Zucker mitgenommen haben. Aber ich habe ja nichtmal Wasser-Shots dabei.

Es geht darum, ohne Kohlenhydrate zu laufen und auch Wasser ist Luxus, den ich mir nur im Wettkampf gönne. Aber zurück zu den Kohlenhydraten. LSD kann man nüchtern laufen. Ich zwinge meinen Körper, endlich zu lernen, Fett zur Enrgiegewinnung zu nehmen. Kohlenhydrate kann jeder. Fett ist fast unendlich vorhanden, die Verbrennung desselben erfordert halt etwas mehr Mühe. Also streng dich an! Verbrenn Fett, du Körper! Je besser man trainiert ist, desto früher fängt der Körper damit an, Fett als Treibstoff zu nehmen. Er hat gelernt, zu sparen. Manche kluge Menschen sagen, indem man dem Körper zusätzlich durch Nüchternläufe zusetzt, zwänge man ihn auch, den teuersten Treibstoff Eiweiß zu nutzen, der dann dem Immunsystem fehle. Ich denke, bei langsamem Tempo ist das Risiko nicht so groß. Und das Tempo ist zwangsläufig langsam.

Der letzte Anstieg aus dem Isartal ans Isarhochufer ist so steil, dass selbst mit Vollgas nur noch 6:30 min/km möglich ist. Die Atmung ist schnell wenn der Körper Fett verbrennt. Der Kilometer 29 ist ein schleppender Kampf. Es ist flach aber der Kopf und die Beine wollen nur noch am Frühstückstisch sitzen und essen. Es sind nun wirklich auch die letzten Glykogenspeicher im letzten Winkel des sich dahinschleppenden Organismus weg. Wie Vakuumbeutel warten sie auf die explosive Wiederfüllung durch schnell verwertbare Kohlenhydrate. Auch die Größe der Glykogenspeicher kann man trainieren. Angeblich.

Mir ist das egal. Vorbei. Duschen. ESSEN. Schon nach wenigen Minuten Nicht-Laufen ist alles wieder gut. LSD sei Dank. Long – Slow – Distance.

Kräftige Ausdauer

Allgemein

Kraftausdauer heißt der magische Begriff dafür, hohe Geschwindigkeit über einen langen Zeitraum aufrecht erhalten zu können. Und 42,195 Kilometer gelten gemeinhin als langer Zeitraum. Natürlich ist der Zeitraum bei höherem Tempo kleiner, deswegen ackert man Kilometer um Kilometer im geplanten Wettkampftempo oder auch mal in etwas schneller als Wettkampftempo und oft auch etwas langsamer, aber immer wesentlich kürzer.

Das Gute an diesen Einheiten ist, dass sie nicht so schnell wie Intervalle sind. Das Schlechte, dass sie meist länger dauern. Eine Kraftausdauereinheit sieht also so aus, dass man sich wie immer in langsamem Tempo einläuft. Ich laufe da lieber noch etwas langsamer, um die Tempoverschärfung so weit wie möglich hinauszuzögern. Man soll sich ja auch gut und langsam aufwärmen, den Bewegungsapparat und den Kreislauf auf die bevorstehende Belastung vorbereiten. Ich nehme das sehr ernst und lasse dem Körper und vor allem dem Geist nach den drei Kilometern im Schneckentempo dann gern noch etwas Zeit, um sich schlussendlich perfekt vorbereitet, mit vor Freude zuckenden Muskeln und frischem Geist in die Schnelligkeit zu werfen. Doch halt! War da nicht noch ein leichter Schmerz in der linken Wade? Ja, genau. Die Wade muss noch genauestens betrachtet werden. Ein bisschen dehnen … Das macht zwar kein Mensch mehr – aus gutem Grund, doch dazu später – vielleicht noch etwas hüpfen und ups, die Straße. Ganz da hinten kommt ja ein Auto. Das muss ich vorbei lassen. Ich kann ja nicht einfach in den Tod rennen. Größte Vorsicht ist geboten beim Überqueren der Straße. Wir erinnern uns, eine Verletzung kann das Aus bedeuten. Also warte ich lieber die 30 Sekunden auf das Auto, das kurz vorher links abbiegt und mir damit deutlich macht, dass es jetzt wirklich los gehen muss mit der Kraftausdauer.

Die tödliche Gefahr abgewendet stürze ich mich in die Geschwindigkeit. Meine Pulsuhr reagiert beim Anzeigen der Geschwindigkeit immer etwas träge. Das ist gut, denn so sehe ich immer einen weichgezeichneten Geschwindigkeitsdurchschnitt. Doch natürlich sollte irgendwann die gewünschte Geschwindigkeit einigermaßen konstant angezeigt werden. Und das kommt mir meist viel zu spät vor. Und wenn ich sie dann erreicht zu haben scheine, kommt sie mir viel zu schnell vor. Habe ich das Ding richtig kalibriert? Es kann doch nicht sein, dass ich nach 3 Minuten Tempo schon in Pulsbereichen bin, die ich tunlichst beim Marathon gar nicht erreichen sollte. Ah, da fällt es mir wieder ein. Ich habe mich ja selbst überlistet und die Uhr beim Kalibrieren etwas nachgestellt. Sie zeigt also einen Hauch weniger an als ich wirklich laufe. Aber so viel weniger? 15 Sekunden pro Kilometer? Nein, sie muss sich von alleine nochmals weiter zurück kalibriert haben. Oder vielleicht ist die Batterie langsam leer. Oder geht es bergauf? Berlin ist ja bekannt für seine legendären Höhenmeter. Man denke nur an den Prenzlauer Berg oder gar den Kreuzberg. Bei den ganzen Gedanken geht die Geschwindigkeit noch etwas runter und der Puls noch etwas rauf. Ich habe bereits die schnelle Atmung, die mich darauf hinweist, dass ich am anaeroben Bereich kratze. Die Kraftausdauer soll aber im aeroben Bereich gelaufen werden, sonst wären es ja harte Tempointervalle, die heute aber gar nicht dran sind.

Nach weiteren Minuten schaue ich auf die Uhr und merke, dass sich an den Parametern nicht viel geändert hat, auch an der Zeit und der Strecke nicht allzu viel. Irgendwann habe ich mir vorgenommen, das Tempo einrasten zu lassen und erst so spät wie möglich, also am besten 250 Meter nach Erreichen der Sollstrecke oder Sollzeit wieder auf die Uhr zu schauen. Aus psychologischen Gründen. Doch das klappt nicht. Okay, dann machen wir es anders: ich schätze immer die schon absolvierte Strecke oder Zeit, runde großzügig ab, schaue drauf und freue mich, dass es schon mehr ist, als gedacht. Das geht ganz gut. Mit dieser Methode überschätze ich mich meist nur leicht. Die dritte Methode ist, Herbert Steffny mental zu folgen. Der sagt, diese Einheiten sollen locker flott gerannt werden. Ich denke also an was ganz anderes und renne nebenher locker flott.

Es ist wie so oft. Oder eigentlich wie immer. Irgendwann ist es vorbei. 12 km im geplanten Marathontempo hört sich so an als ob es ja leicht zu schaffen sein müsste. Ist es eigentlich ja auch. Nur schlägt einem der Kopf da ein Schnippchen. Ich bin ja nur im Training, es ist ja noch nicht ernst, also kann ich ja etwas abschlaffen und außerdem ist das ganze Training ja so wahnsinnig anstrengend, es kann ja nicht immer gut laufen. Schlecht geschlafen habe ich auch und das Glas Wein am Vorabend haut auch rein. Und: Das Intervalltraining vom Dienstag sitzt mir noch in den Knochen. Klar, dass einem da der Freitag wehtut.

Vor allem trainiere ich also meine Psyche. Kraftausdauer heißt: Lang schnell laufen zu können ohne Pause. Es heißt auch, dem Schweinehund zu widerstehen. Der Körper kann das, es tut halt weh und deswegen meint der Schweinehund, er habe Oberwasser. Also Augen auf und durch. Augen auf die Bäume, die Mädels, das Wasser, die Gebäude, die Tiere nur nicht zu oft auf die Uhr. Das ist meist enttäuschend.

Aaaaaaaah.

Allgemein

70 Minuten Jogging. Was heißt das für den ambitionierten Marathonläufer? 14 km. Erholung. Kein glutrotes Gesicht. Kein Blutgeschmack im Mund. Ruhige Atmung. Lockeres Laufen. Keine Anstrengung. Schnell vorbei. Keine Schmerzen.

Als systematisch Trainierender gibt es verschiedene Elemente im Trainigsplan. Schnell, lang, zügig, locker, ruhig, langsam und Kombinationen aus allen. 70 Minuten Jogging heißt: Regeneration und Erhaltung. Egal, welche Trainingsphilosophie man verfolgt muss man für bestimmte Zielzeiten (um Zweifünfundvierzig geht es hier) bestimmte Umfänge laufen. In meinem Fall sind das im Schnitt 120 Kilometer pro Woche bei täglichem Training. Ich muss schon froh sein, dass nur einmal pro Tag reicht.

Die Elemente schnell, lang, zügig, locker, ruhig, langsam und Kombinationen aus allen werden sinnvoll kombiniert. So folgt auf hartes Training, dazu gehört schnell und auch lang, immer Regeneration. Irgendwie logisch, doch oft missachtet. Eines der am schwierigsten zu lernenden Dinge im systematischen Training ist für mich das langsame Laufen. Abgesehen davon, dass mich, auch wenn ich langsam laufe, nicht allzu viele andere Läufer überholen, muss ich mich, wenn es trotzdem mal jemand tut, nach wie vor zusammenreißen. Teilweise spreche ich dann mit mir und beruhige mich. Das hilft. Im Rennradsport sagt man: am Berg ist immer Wettkampf. Läufer sind da entspannter, ich tu dann inzwischen einfach so, als ob ich eine Regenerationseinheit absolviere.

Langsam ist wichtig, gerade im Marathontraining. Das ist schwer zu begreifen für mich. Viele reden vom Training der Fettverbrennung, die wichtig ist, wenn die Kohlenhydrate verbraucht sind. Das stimmt sicherlich. Aber die Power- und sonstigen Gels verhelfen einem ja zur Substitution der Kohlenhydrate im Wettkampf. Also ist es doch eher für die Regeneration, die psychische Entspannung, das Sammeln von Kilometern?

Das Problem ist, so als Laie hat man keinen Trainer, der einem das genau erklärt und keine Zeit, alles auszuprobieren. Ich kann nicht sagen: so, diesen Marathon laufe ich mal mit vorwiegend schnellen Trainingseinheiten und verzichte auf die vielen langen Läufe und schau mal, was passiert. Aber warum eigentlich nicht? Ich habe ja nichts zu verlieren im Gegensatz zu Profis, die von ihrer Leistung abhängig sind. Das ist dann der gaga-Faktor, der dem ambitionierten Laien vorgaukelt, das Erreichen der persönlichen Bestzeit sei wichtig und man dürfe auf keinen Fall etwas im Training verbocken. Also vertrau auf die, die es besser wissen und befolge den Plan.

Endlich Zweifünfundvierzig

Allgemein

Zum genau fünften Mal kämpfe ich an der magischen Zweifünfundvierzig. Das sind 165 Minuten. Minuten, die die Welt bedeuten. Für mich. 165 Minuten von denen jede ziemlich genau 256 Meter enthalten sollte. Es geht um eine Geschwindigkeit von 256 Metern pro Minute oder von 15,34 Kilometern pro Stunde. Nein, nicht auf dem Elektrofahrrad auch nicht auf dem Rennrad, sondern auf den Beinen. Es geht ums Laufen und zwar um die Königsdisziplin Marathonlauf.

Dieses Jahr werde ich meinen zehnten Marathon laufen. Den zehnten in Berlin. Meine Bestzeit liegt bei 2:47:56, aber das ist schon 4 Jahre her. Ich trainiere im Sommer und lasse es im Winter mehr oder weniger schleifen. Das ist wahrscheinlich der Grund, weshalb ich die Zeit nicht erreiche. Das Essen schmeckt zu gut, der Wein auch und nicht laufen macht einfach zu viel Spaß.

Ich will nicht von der Offenbarung berichten, zu der ich durch das Laufen gekommen bin. Auch kenne ich kein Runner’s High oder andere Hochgefühle. Das Laufen macht mich gesund und schlank, das Essen schmeckt besser und wenn man einen Lauf in der gewünschten Zeit geschafft hat, was selten genug passiert, freut man sich. Aber nein, ich brenne nicht darauf, loszulaufen und schon gar nicht darauf, acht mal tausend Meter in 3:30 mit 3 min Pause dazwischen bei 25 Grad und einer Luftfeuchtigkeit von 85% allein in einem Stadion zu laufen, um dessen Benutzungserlaubnis man beim Platzwart kämpfen muss.

Warum dann diese Lauferei? Ich weiß es nicht. Es geht um Leistung, darum, es trotz 45 Jahren auf dem Buckel nochmals zu bringen. Alter tut weh, beim Laufen und auch sonst. Je älter man wird, desto mehr muss man trainieren, desto länger dauert die Regeneration und desto langsamer wird man. Das ist fürchterlich. Also lass es doch! Nein, ich lasse es nicht. Dieses Jahr werde ich es schaffen. 2:45:59 ist okay, 2:46:00 nicht.

Ich trainiere also jahrelang für zwei oder drei Minuten. Zwei oder drei Minuten trennen völlige Enttäuschung von himmelhochjauchzendem Glück. Das ist – nüchtern betrachtet – ein bisschen gaga. Jeder Bestzeitenjäger wird mich dennoch voll und ganz verstehen. Huch, da hab ich es ja geschrieben: himmelhochjauchzendes Glück. Ist es also das, was mich antreibt? Die Sehnsucht nach diesem Glück, das selbstgesteckte Ziel erreicht zu haben? Das Gefühl, ja, ich hab’s geschafft?

Oder ist es das Gefühl, dass die Freunde mitgehen, zuschauen, anfeuern, mitleiden, mitfiebern? Es ist ein tolles Gefühl, unter den Anfeuerungsrufen der eine Million Zuschauer zu laufen. Da ruft immer mal wieder einer meinen Namen, weil er auf der Startnummer steht. Und es ist zweifelsohne toll, den Kilometer 42 unter dem Brandenburger Tor zu passieren. Aber davor gibt es einfach so viel Leid und Schmerz und Wut und Zweifel und Hinschmeißenwollen. Wiegt es das Gefühl am Kilometer 42-Schild auf? Vielleicht.

Die ganze Strecke ist penibel durchgeplant, etwa 60g Kohlenhydrate pro Stunde in Form von Gels muss ich aufnehmen. Die werden mir aufgelöst in zur Hälfte gefüllten Plastikfläschchen gereicht, immer an genau ausgemachten Stellen, in Laufrichtung rechts. Nicht zu voll darf es da sein und keinesfalls in der Nähe von den allgemeinen Verpflegungspunkten. Rennlogistik nennt man das. Man ist abhängig von der Zuverlässigkeit der Darreicher und zutiefst dankbar, dass man sich auf sie verlassen kann.

Ich berichte vom Ziel der Ziele, dem Marathon-Wettkampf. Und ich berichte von den knapp 100 Prozent der Vor-Marathon-Wettkampf-Zeit, dem Training und den „untergeordneten“ Trainings- und Testwettkämpfen. Alles vor dem 27. September ist unwichtig und gleichzeitig unabdingbar für den Erfolg am 27. September 2015. Alles, wirklich alles ordnet sich diesem Datum und der Vorbereitung darauf unter. Es lastet ein ungeheurer Druck auf genau diesem Termin. Werde ich krank, verletze ich mich oder passiert sonst etwas, ist es gelaufen. Aus und vorbei, alles umsonst.