Darum-tu-ich-mir-das-an-Dienstag

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Die Dienstage sind die bösen Tage eines Läuferlebens. Ich nenne sie ja gern Warum-tu-ich-mir-das-an-Dienstage. Heute ist ein ganz anderer Dienstag. Nur ein Buchstabe ist anders, der bedeutet aber alles. Aus W mach D. Aus Warum wird Darum. Und das ist was.

Warum läuft ein Läufer (außer am Dienstag nach dem Marathon)? Einer, der kein Runner’s High kennt, einer, der oft lieber Fahrrad fährt, einer der gern fertig mit dem Laufen ist und einer, der lieber kocht und Wein trinkt? Einer, der Zigarren raucht und auch sonst den faulen Genüssen zugetan ist? Darum.

Wegen eines Dienstags, wie heute. Alles tut weh. Waden, Oberschenkel, ja sogar die Rückenmuskulatur. Das Treppengehen in die Hinunter-Richtung sollte man unterlassen. Ein Treppenlift wäre von Vorteil und man versteht etwas besser, warum eigentlich alles behindertengerecht sein sollte.

Gestern bin ich noch ein bisschen in ein Loch gefallen. Vielleicht ist der Laktat- kombiniert mit dem Alkoholabbau etwas zu viel für den Körper am Montag. Heute scheint er jedoch ganz fidel bei den Aufräumarbeiten der ungesunden Überanstrengungsreste zu sein. Die Vorstellung einer Großbaustelle mit allerhand schwerem Gerät, Staub und Lärm passt ganz gut zu dem Gefühl in den Beinmuskeln.

Es ist heute der Dienstag, an dem man ein 364stes Mal die Ergebnisliste anschaut und prüft, ob sich vielleicht nicht doch ein Fehler eingeschlichen hat, vor allem bei den 527 Läufern, die die Frechheit besaßen, vor einem im Ziel zu sein. Oder ob die Bilder endlich hochgeladen sind, die einen mit Wasserzeichen versehen, aber dennoch gut erkennbar schmerzverzerrt zeigen.

Es ist auch der Wunden-lecken-Dienstag. Man hat wieder Zeit und auch die Fähigkeit zu spüren, was alles kaputt ist im Körper und wie wichtig die Regeneration ist. Auch die Lungen zum Beispiel. Da wurde am Sonntag zwischen 9:00 und 11:47 Uhr so unglaublich viel Luftvolumen umgesetzt. Kaltes Luftvolumen. Acht Grad waren es beim Start oder so. Und das spürt man heute und morgen und übermorgen und gestern. Ein deutliches Brennen ist vernehmbar. Nachbrennen. Ein Zeichen dafür, dass erstmal nicht so viel Volumen umgesetzt werden sollte.

Trotzdem oder vielleicht genau deswegen: Darum. Vielleicht ist das am schwersten Erreichbare das, das den höchsten Genuss verspricht? Vielleicht. Aber jetzt mal ehrlich. Es macht auch irgendwie Spaß, das Laufen auf die verrückte Ebene zu stellen, die Arbeit daran hervorzukehren und das Absurde zu pointieren. Man nennt das manchmal auch Kokettieren. Also ja, Laufen macht schon Spaß. Auch wenn es oft am meisten danach Spaß macht. Nach dem Laufen. Aber ohne Laufen gäbe es ja kein Nach-dem-Laufen. Also.

Und: Dann gibt es so einen Wettkampf wie am Sonntag. Ideales Wetter, ideale Form, ideale Zeiteinteilung, ideales Gefühl. An 10 Stellen stehen die Freunde und versorgen einen mit Kohlenhydraten und Liebe. Die Wasserstationen kann man links liegen lassen. Oder rechts. Und es läuft. Es läuft und läuft und läuft. Kilometer 5, 10, 15, 17, 20, 24, 29, 33 … vergehen wie im Flug. Ich frage mich, wann es denn endlich schwer wird. Irgendwie unwirklich. Schon beim Start hatte ich das Gefühl, dass es heute gut wird. Einmal kurz austreten bei Kilometer drei. 30 Sekunden Pause. Die ersten 5 Kilometer in 4:01 Minuten pro Kilometer. Perfekt. Ein langsamer Anfang garantiert einen schnellen Lauf. Danke Niere.

Bei Kilometer 36 Komma fünf steht noch eine sehr gute Freundin, die sich trotz rasender Kopfschmerzen auf den Weg gemacht hat. Das ist unglaublich toll, wenngleich auch unabdingbar. Gerade der Kilometer 36 Komma fünf ist ein Schlüsselkilometer. Hier wird es immer schwer. Immer. Auch vorgestern. Hier braucht man Liebe und Kohlenhydrate. Ich reiße ihr die Flasche aus der Hand. Sie weiß vielleicht gar nicht, wie dankbar ich ihr bin.

Das mindestens 98ste Schild mit „Umdrehen ist jetzt auch doof!“ habe ich passiert. Bei Kilometer 36 Komma fünf glaube ich es zum ersten Mal. Weiter trotz Aua. Das Aua ist nicht so schlimm, wie es sein kann. Und es kann sehr sehr sehr schlimm sein. Man kann zwischen Kilometer 35 und 42 gut 10 Minuten verlieren oder mehr. Und das ist eine echt bittere Pille, die man schlucken muss. Sie bleibt mir dieses Mal erspart.

Bei Kilometer 39 stehen die gleichen wie bei Kilometer 10. Die konnten gemütlich abkürzen. Ich nicht. Dort brauche ich vor allem Liebe. Weniger Kohlenhydrate. Leipziger Straße. Todesstraße. Jetzt tut wirklich alles weh, die Beine gehen nicht mehr von alleine, man muss jeden Schritt erzwingen. „Halt die Schnauze! Du läufst jetzt und zwar mit dem Kopf!“ erwidert mir die Kilometer-39-Beauftragte auf mein Gejammer, dass das ja immer die gleiche Scheiße sei hier. Etwas Richtigeres konnte sie in dieser Situation nicht sagen. Was gehen mich meine Beine an? Der Wettkampf wird im Kopf gewonnen. Ich laufe also mit dem Kopf. Es kommt der Kilometer 40. Von hier sind es noch fünf Stadionrunden. Ich keuche und stöhne und huste. „Come on, you can do it!“ brüllen mich zwei Läufer, die ich überhole an. Ich huste nochmals sehr laut. „Yes! Go! Gooo!“ schreien sie. Kilometer 41 kommt in Sicht. Vorbei. Dann kommt die Sicht aufs Brandenburger Tor. Kerzengerade geht es jetzt Richtung Ziel.

„Bitte sprinten Sie nicht auf dem letzten Kilometer“ teilen einem die Lautsprecher im Startbereich mit. Genau. Das werde ich jetzt befolgen. Nicht sprinten. Ist klar. Ich drücke drauf ohne Rücksicht auf Verluste, so, als ob es kein Morgen gäbe. Es fühlt sich an, wie bei dem Audi 80 Diesel von meinem Schulfreund, der auf der A8 Richtung Karlsruhe kurz nach Pforzheim am Berg einen Laster zu überholen versucht. Das Bodenblech stellt sich als hauchdünne Membran gegen den Schlag der Schwanzflosse eines Buckelwals. 100%.

Manche Hochleistungssportler trainieren 100%-Intervalle. Die dauern dann etwa 3 Sekunden. Mehr geht nicht. Der Körper ist darauf bedacht, noch Reserven mobilisieren zu können. Aber nur im äußersten Notfall. Dieser äußerste Notfall ist nach dem Brandenburger Tor eingetreten. 195 Meter äußerster Notfall. Es ist mir vollkommen egal, wie verzerrt ich auf den Bildern aussehe. Hier zählt nur noch eins: Das Ziel möchte ich jetzt von der anderen Seite sehen. Gewalt. Pure, rohe Gewalt tu ich meinem Körper an. Wahrscheinlich kommen 85% der Schmerzen heute von den letzten 195 Metern des Marathons.

Haben die das Ziel verlegt? Ich bin in meinem Leben noch nie so lange 195 Meter gerannt. Es hört und hört nicht auf. Da ist doch das Ziel! Aber es dauert noch. Endlose Schritte. Der äußerste Notfall zieht sich. Doch irgendwann ist auch der äußerste der äußersten Notfälle vorbei. Die erbarmungslos laufende Uhr ist genau über mir, die Zeitmessmatte quittiert meine Ankunft mit einem schrillen Piep. Aus. Vorbei. Ich kann es kaum fassen. Bestzeit. Auf meiner Uhr stehen noch 3 Sekunden mehr als es tatsächlich sind. Ein Geschenk.

Ich taumle etwas im Ziel. Ich reiße mich schnell zusammen, denn die ganzen Aufpasser sind drauf getrimmt, Kollabierende rechtzeitig zu erkennen. Ich will nicht angesprochen werden. Die Hände verdecken mein Gesicht. Unaufhaltsam drängeln sich die Tränen am Ausgang. Ich lasse sie raus. Was für ein kleiner Moment für die Menschheit, was für ein großer für mich.

Darum tu ich mir das an.

Der Morgen

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Geschlafen? Gefühlt nicht. Warum? Aufgeregt. Warum? Keine Ahnung. Lampenfieber. Wie vor einem Konzert. Das Nicht-Schlafen ist immer so. Hätte ja auch mal anders sein können. Der Herzschlag ist beschleunigt, wirre Sachen gehen einem im Dämmermodus durch den Kopf. Die Feierleute kommen um 5 Uhr nach Hause und trampeln besoffen die Treppen hoch. 5:30 Uhr. Porridge mit Banane, Joghurt und Honig runterwürgen, Tee, Kaffee. 6 Uhr muss alles drin sein. Verdauen.

Nicht zu viel trinken, nicht zu wenig. Duschen erübrigt sich heute, es kommt kein warmes Wasser. Ob ich wohl das Glück einer warmen Badewanne nach dem Lauf haben werde? Es ist Sonntag. Und zum Haus kommen keine Handwerker, da ich direkt an der Strecke wohne. Innerhalb des Zirkels. Also Eisbad. Ist gut für die Regeneration.

6 Grad draußen sind leider etwas frisch. Mit viel Glück steigt die Temperatur auf 15 Grad im Ziel. Zu kalt. Aber es regnet nicht und es ist windstill. Vielleicht sogar ideales Wetter. Später. Um 9 ist es wesentlich zu kalt. Alte Kleidung drüber und für einen guten Zweck wegwerfen. Im Startblock B, 10 Sekunden vor dem Startschuss. Die ersten 3 Kilometer frieren und bloß nicht zu schnell. 4 Minuten pro Kilometer die ersten 15 km, dann 10 km in 3:53, dann 17 km in 3:57. Ergibt 2:47 Stunden. Das ist der Plan. Ich werde davon abweichen.

Ein Freund läuft ja auch. Er hat in 12 Wochen 15 Kilo abgenommen und wird 3:30 oder drunter laufen. Das ist echt eine Leistung. Gleichzeitig erinnert es mich auch an die Zeit der noch großen Sprünge. Von 3:16 Stunden auf 2:54 Stunden in einem Jahr. Jetzt seit 4 Jahren Stagnation bei um die 2:50. Alter, Leistungsgrenze und Faulheit. So ist das.

Und jetzt:

LAUF DU SAU!

Der Tag davor

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Dingdong. Hat es geklingelt? Wer besucht mich den jetzt? Ist es der Bürgermeister? Der Polizeipräsident oder der Rennleiter des SCC? Eine kleine persönliche Entschuldigung wäre schon angebracht. Schließlich hat man mir vor einem knappen Jahr zwei Teilnehmerbeiträge á 100 Euro abgebucht und dann als Strafe noch fünf Euro einbehalten, weil ich mich angeblich doppelt angemeldet hätte. Und dann noch das Startblockdesaster. Also Herr Milde, Sie sind willkommen. Einen Schluck Wasser habe ich für Sie. Kostenlos!

Werbung! Ach so. Srrrrrr. Es klingelt, summt und wummert. In meinem Kopf. Bitte keine Werbung. Heute nicht. Eigentlich nie. Ich bin Marathonläufer. Ich brauche keine Werbung und heute schonmal gar nicht. Ich habe die letzten Vorbereitungen für das Helfermahl morgen abgeschlossen und hänge so rum. Die Zutaten für die Mailänder Minestrone habe ich im Übrigen auch ohne Werbung gefunden. Ich liege eher so rum. Beine hoch. Ruhe. Mit 75 Herzschlägen pro Minute. Entspannung pur. Ja, so eine Läuferpumpe ist schon herzig. Normalerweise habe ich einen Ruhepuls von etwa 35. Nachts. Lange nach der REM-Phase. Nach der Renn-Phase morgen werde ich bis zum Abend kaum unter 100 kommen.

Auch vor dem Start im Startblock (B!) werde ich stehend etwa 110 haben. Einhundertzehn! Im Stehen. Wie soll das dann erst im Rennen werden? Deswegen lasse ich morgen den Brustgurt zu Hause. Der Puls ist mir morgen egal. Er darf machen, was er will. Er hat frei. Er darf bis 190 hochgehen. Ist mir alles recht. Die Uhr zeigt null an. Tod eines Handlungsrasenden. Ich laufe nur nach Zeit. Mache ich doch eh. Macht man doch eh. Die Pulsbereiche, die für Amateursportler bestimmt werden, sind unwichtig. Es geht beim Marathon um die Zeit, nicht um die Herzfrequenz. Klar ist es interessant, danach die Durchschnittsherzfrequenz des Laufes zu wissen. Aber das, was wirklich interessiert, ist die Zeit. Ich gebe also die Pulskontrolle ab und achte nur auf die Zeit.

Und die wird leider langsamer als 2:45 sein. Auch da beißt die Maus keinen Faden ab. Ich schaffe die Geschwindigkeit nicht. Zu alt, zu faul und zu untalentiert. So ist es. Aber ich habe trotzdem Spaß und freue mich, wenn ich vielleicht eine neue Bestzeit laufe. 2:47:55 zum Beispiel. Ich möchte einfach nicht einbrechen, mich nicht allzu sehr quälen müssen (hahaha) und das Tempo einigermaßen aufrecht halten können.

Dazu sind alle Helferlein postiert. Die Kilometer fünf, neuneinhalb, vierzehneinhalb, siebzehn, neunzehneinhalb, vierundzwanzigeinhalb, neunundzwanzigeinhalb, dreiunddreißig, sechsunddreißigeinhalb und neununddreißigeinhalb markieren die Punkte, an denen es Fresschen gibt. Kohlenhydratgel mit Wasser, 250ml Gesamtvolumen. Alle sind da, Alle sind von der Wichtigkeit überzeugt. Alle unterstützen mich und nehmen meinen Wahnsinn ernst. Das rührt mich und ich empfinde große Dankbarkeit. Mal echt jetzt! Tolle Freunde habe ich da.

Ich habe so viel Suppe für meine Freunde, dass ich sogar Herrn Milde vom SCC eine Minestrone ausgeben könnte. Kostenlos. Auch einen Brownie darf er haben. Mit Zucker. Der erste Zucker nach 12 Wochen für mich. Na ja. Vielleicht der fünfte. Aber nicht mehr. Ehrlich. Und Wein gibt es morgen Nachmittag. Alkohol ist der Regenerationskiller Nummer eins. Also zuerst Wein. Fett ist der Regenerationskiller Nummer zwei. Also dann Butter, Käse, Schmalz und Salami. Und zum Abschluss sieben Brownies. Mindestens. Butter, Weißmehl, Zucker. Regenerationskiller Nummer drei bis achtundvierzig. Regeneration fällt morgen aus. Und übermorgen auch. Ich will so richtig schweren Muskelkater haben. Dienstags geht man alle Treppen rückwärts runter. Ich will sie auf allen vieren und rückwärts gehen müssen. Mittwoch auch noch.

Jetzt muss ich es aber irgendwie schaffen, bis morgen zu ruhen, heute Nacht zu schlafen und morgen nicht zu verschlafen. Und natürlich habe ich alle verfügbaren Zweifel. Habe ich wirklich richtig trainiert? Die Intervalle waren doch alle viel zu langsam, die langen Läufe alle zu schnell, die Kraftausdauerläufe auch zu langsam. Eigentlich war alles falsch. Trotzdem laufe ich mal mit morgen. Vielleicht klappt es ja doch. Vielleicht komme ich an. In Block-H-Zeit. 5 Stunden 21 Minuten und 59 Sekunden. Juhu. Marathon geschafft. 15 Uhr zu Hause. Dann kann ich die Suppe gerade noch rechtzeitig aufwärmen.

Oh mein Gott. Dieses Gequatsche. Schlimmer als das nervöse Startblock-Gequassel. Gestern habe ich sogar vom Fahrrad einen Läufer angeschrien, heute sei Ruhetag. Ich fand mich dabei sogar witzig. Er mich verständlicherweise nicht. Herr lass Abend werden. Morgen Abend.

Block H

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Es ist Marathonmesse. Damit fängt das ganze Spektakel an. Ab da gibt es kein Zurück mehr. Bist du einmal im Flughafen Tempelhof, lässt dich keiner mehr frei. Gefangen und verhaftet. Der Marathon ist unausweichlich.

Dort bekomme ich gegen Vorlage des Ausweises und meiner Teilnahmebestätigung ein Bändchen ums Handgelenk und meine Startnummer ausgehändigt. Die Startnummer ist etwas besonderes, denn da steht neben meinem Namen auch der Startblock drauf. Der Startblock richtet sich danach, wie schnell ich laufe. Unter 2:40 h ist Block A, 2:40 bis 2:50 ist Block B, 2:50 bis 3:00 ist Block C, usw. Es sind also nicht nur Vorschusslorbeeren, sondern es ist eine Frage der Ehre. Und da hört der Spaß auf. Jeder Mitläufer schaut als erstes auf den Startblock und dann erst auf die Beine des Konkurrenten.

Mit großer Spannung in der Erwartung eines Kommentares, wie: „Det isn Schnella!“ oder „Na dann viel Schbass bis halb zwölf.“ stehe ich im Gedränge und warte geduldig mit Genugtuung. Der Held wartet auf seine Lorbeeren. Dann kommt der große Moment, ich trete an einen freigewordenen Platz heran. Es ist einer von etwa 40. Mein Ausweis und meine digitale Teilnahmebestätigung präsentiere ich stolz, doch mit der nötigen Portion vornehmer Zurückhaltung. Ein tiefer Atemzug und batsch! Eine größerer Ohrfeige habe ich in meinem Leben noch nicht erhalten. Von Ohrfeige zu sprechen trifft den Nagel jedoch mitnichten auf den Kopf. Es ist eine Vernichtung. Ich habe mich zur Teilnahme als schneller Läufer qualifiziert und wurde nicht etwa gelost, neeeiiin. Ich bin hier der Zampano, der Läufer vor dem Herrn, der gestörteste von allen. Und ich habe Ehre verdient.

Doch es kommt, wie es schlimmer nicht kommen kann. Mein berührungssensitives Taschentelefon wird digital abgetastet und batsch. Batsch, batsch, batsch! Name richtig, Geburtstag richtig (leider!) und Startblock H. Haha! Ein Witz, denke ich. Doch die ernste Miene der Tresendame verrät nichts Gutes. Nach einem so guten Witz so ernst zu bleiben, das schafft ja nichtmal Kurt Krömer. Wo ist die versteckte Kamera? Kurt Felix muss jeden Moment vorbeikommen, da ich bin ganz sicher. Oder Reinhold Messner. Oder Martin Winterkorn.

Doch es bleibt unspektakulär. Es kommt keine Hilfe. Ich stehe da mit meinem H und muss mich auf den Weg machen, es selbst zu richten. Nur so als Zwischeninformation: Startblock H ist der für alle, die keine Zeit angeben, weil sie zum ersten Mal Marathon laufen und alle die, die langsamer als 4:15 laufen. Es ist der Startblock vor dem Besenwagen, es ist der Startblock dessen Startschuss später fällt, die ersten Läufer aus diesem Block überqueren etwa 20 Minuten nach der Elite die Startlinie. Es ist ein Startblock, der seine Berechtigung hat und die Menschen in diesem Startblock sind auch toll. Aber es ist nicht mein Startblock!

H. Wutschnaubend gehe ich zu dem winzigen Schreibtischchen, das mir gezeigt wurde und baue mich auf. Der ältere Herr ist sichtlich überfordert mit dem Ansturm von etwa sieben Läufern und Skatern. „Ja, haben Sie denn einen Nachweis über ihre Zeit?“, fragt er mich. Einen Nachweis? Ich bin qualifiziert. Ich bin schnell. Ich bin bereit für Startblock A! Ich, ich, ich. Sieht man das denn nicht? Kennt mich hier niemand? Wer außer mir hört hier den Schuss nicht? „Ich kann Ihnen D geben“, sagt er großzügig. Langsam komme ich in den anaeroben Bereich. Um ihn nicht sofort aus seinem Stuhl zu ziehen und anzuschreien, gebe ich mich mit einer C zufrieden und mache mich auf den Weg zum Help Desk.

Dort entschuldigt man sich und klebt mir bereitwillig das B auf, nachdem ich meine Qualifikation nachgewiesen habe. Okay. Dann ist ja gut. Dann gehe ich jetzt mal Schuhe und Socken kaufen. Meine Kohlenhydrate heute Abend habe ich mir allerdings mehr als verdient.

H. wird zu B. Achso! Das sind meine Initialen! Ein Zeichen! Nachtigall, ick hör dir trapsen. Was für eine Ehre. Dass ich das nicht gemerkt habe.

Ich liebe meine Kollegen

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Wirklich. Aus vollem Herzen. Toll, dass sie da sind und mir Arbeit abnehmen. Und sie haben ja auch Verständnis für mich und meine Lauferei. Manchmal tun sie sogar so, als ob sie tatsächlich daran interessiert wären. Ich habe dann das Gefühl, ernst genommen zu werden und das brauche ich jetzt mehr denn je. Toll, dass sie da sind und mich ernst nehmen und mir Freiraum für den Tag der Tage geben. Danke. Danke. Danke.

ABER! Es ist Erkältungszeit. Und jede laufende Nase und jede explosive Luftentladung macht mich völlig wahnsinnig. Können die mit den Erkältungen bitte nicht noch 6 Tage warten? Und können sie bitte so lange nicht mit mir reden, ja am besten mich nichtmal ansehen? Geht das bitte, ja? Nicht an mir vorbeigehen, nicht atmen und nicht berühren. Am besten krank melden. Sofort. Ich mach alles allein. Wann führen wir hier endlich den asiatischen Mundschutz ein? Das ist mal eine der wenigen guten Eigenschaften des Asiaten. Er hat genug Rücksicht, um sich bei ansteckenden Krankheiten zu isolieren. Mit einem Mundschutz aus Zellstoff.

Ein Schnupfen kann sich ja nur ausbreiten, wenn alle sich frank und frei ausniesen und aushusten. Ich nenne das Körperverletzung. Der nächste, der in meiner Nähe niest, wird angezeigt. Versuchter Totschlag. Ja. Nein. Das ist keine Übertreibung. Nachher bekomme ich eine Herzmuskelentzündung, kippe bei Kilometer 34 um und habe einen Herzstillstand. Und was bin ich dann? Tot. Reanimation innerhalb von 60 Sekunden müsste sein. Bei dem erhöhten Stoffwechsel und Sauerstoffbedarf des Hirns. 60 Sekunden. Und dann muss erst noch einer kommen, der das auch suffizient kann. Kein ehrenamtlicher Rettungssanitäter, der das vielleicht schon einmal an so einer Plastikpuppe geübt hat. Vor 23 Jahren. Nein. Das muss schon ein verdammt fitter Reanimateur sein. Und kommt der nicht in 60 Sekunden bin ich tot. Totgeschlagen von dem rücksichtslosen Nieser.

Also bin ich für das Einführen der Mundschutzpflicht in Deutschland. Dann gibt es auch keine toten Punkte mehr und keine Einbrüche. Das sag ich euch. Das können wir von den Asiaten lernen. Haruki Murakami ist ein großer Läufer. Er ist sogar schon 100 km gelaufen. Und nebenher schreibt er Bücher. Das könnte er nicht, wenn er ständig angeniest würde. Das gute asiatische Benehmen hat hier rein funktionale Gründe. Der Kranke hat die Pflicht, die anderen vor sich zu schützen. Er hat die Pflicht, seine tödlichen Bakterien nicht zu verstreuen. Er hat die Pflicht, sich zu isolieren. Und er nimmt diese Pflicht mit Respekt vor den anderen wahr. Es ist seine gesellschaftliche Pflicht, die Keime für sich zu behalten und sowohl die volkswirtschaftliche Leistung als auch die kulturgeschichtliche Entwicklung der Menschheit nicht zu gefährden.

Hatschi.

Der letzte Sonntag

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Waren die Sonntage immer geprägt vom langen Lauf oder von Wettkämpfen, so ist dieser letzte Sontag vor dem Sonntag der Sonntage, vor dem Lauf der Läufe, ein Sonntag, wie er im Bilderbuch steht. Fünfundvierzig Minuten locker. Locker heißt zügig, aber locker und fünfundvierzig Minuten heißt, dass es schneller vorbei ist, als man glauben möchte. 10 Komma 3 Kilometer und fertig. Zack nach Hause. Kurz und schmerzlos.

Aber da gibt es doch noch ein paar Sachen zu berichten. Je näher man an den Tag der Tage herankommt, desto mehr Läufer grinsen einen an, nicken verständnisvoll oder zeigen einem durch irgendwelche Gesten, dass sie einen bemerken. Aber bemerken sie einen wirklich? Bemerke ich die Läufer wirklich? Oder sehe ich mehr oder weniger in allen begegnenden Läufern mich selbst? Nicke ich mir selbst zu und zeige verständnisvoll, dass ich es jetzt fast geschafft habe? Klopfe mir auf die Schulter und sage: „Mann echt? 1300 Kilometer im letzten Vierteljahr? Sauber!“ Der Läufer braucht nur sich selbst. Es gibt nicht wie im Volleyball einen, der angreift und einen, der stellt und einen, der annimmt. Jeder Läufer muss alles machen. Laufen. Schnell und allein. Deswegen glaube ich auch nicht, dass die Läufer sich plötzlich bemerken, wenn es so auf den Tag der Tage zugeht. Sie sehen sich nur plötzlich selbst und hören ihr Tapptapp, sehen ihre Wettkampfkleidung, die sie testen und sind vor lauter Aufregung ganz aufmerksam zu sich selbst. Und freundlich. Zu sich selbst.

Es ist ähnlich wie das Vor-Rennen-Nervositäts-Geplappere im Startbereich.Wir sitzen in einem Boot. Also ich sitze im Boot und die anderen im gleichen. Nicht im selben. Wir machen alle das gleiche. Das exakt gleiche. Und deswegen muss man sich vielleicht auch abgrenzen und nicht wirklich Kontakt zum anderen aufnehmen. Und natürlich sind die anderen auch alles böse Konkurrenten um den Sieg. Also werde ich weiterhin freundlich zu mir sein, mir zunicken und und mich auf das Startblock-Geplapper freuen.

Die letzten Meter

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Ich habe den Hals besänftigt. Auch die Lungen haben Verständnis. Das Panikfieber tritt nur noch selten auf. Alles scheint gut. Mein großer Dank geht hier an meinen Körper. Er hat es nicht leicht mit mir. Er muss immer funktionieren. Und wehe ein Hals sagt mal was mit kratziger Stimme. Schon droht das ganze System zu kippen. Aber es kippt dieses Mal nicht. Bisher. Danke.

Ich bin seit Donnerstag in der Taperingphase. Der Mittwoch war nochmals sehr aua. Sehr sehr aua. Sogar mit Muskelkater. Sehr leichtem. Hatte ich nach dem 10.000 Meter Lauf durch den Tierpark nicht, obwohl ich da länger am Stück schneller gelaufen bin. Manchmal ist es schon komisch. Aber diese Pyramidenläufe oder wie das heißt sind auch echt fies. Erst einen Kilometer, dann zwei und dann drei und dann wieder zurück. Man freut sich also nicht nach jedem Intervall, dass es jetzt eins weniger ist, sondern hat Angst vor dem nächsten, weil es härter ist. Vermutlich soll da nochmal kurz gezeigt werden, dass so ein Marathon kein Spaziergang ist. Okay. Ich habe es verstanden.

Am Donnerstag war Ruhetag. Moment. Was heißt das jetzt? Seit 12 Wochen trainiere ich jeden Tag. Und jetzt soll ich einen Tag aussetzen? Das geht doch nicht. Da werde ich sofort fett und alle Muskeln bauen sich ab. Echt jetzt? Gar nix machen? Nix machen, sagt der Trainer. Tapern ist das schwierigste. Na ja, so schwierig war es jetzt ehrlich geschrieben nicht. Halt einfach alles wie sonst, nur nicht laufen. Das geht schon mal. Musst du dich halt zwingen. Ruhetag. Ruht wohl, ihr heiligen Gebeine. Donnerstag ist Johannespassionstag. Mittwoch war Darum-tu-ich-mir-das-an-Mittwoch. Genau darum. Um Ruhetage genießen zu können, trotz Passion.

Am Freitag war der endgültig letzte lange Lauf. 22 Kilometer langsam. Wirklich langsam. Schön war’s. Aber aus der Hüfte habe ich auch den nicht geschüttelt. Irgendwas ist immer anstrengend. Die Sehnsucht nach dem schwerelosen Dahingleiten bleibt unerfüllt. Vielleicht am Donnerstag nach dem Marathon, wenn der schlimmste Muskelkater weg ist und ich mich aufs Mountainbike setze und es bergab rollen lasse. Vielleicht gleite ich dann fast schwerelos dahin bis mich der nächste Anstieg aus meinem Traum reißt. Sport ist anstrengend, da beißt die Maus keinen Faden ab.

Halskratzen

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Eigentlich ist das ja nix Neues. Immer irgendwann im Marathontraining wird man kränklich. Also ich jedenfalls. Meistens um den Wettkampftag herum. Manchmal nach dem Wettkampf (scheißegal!), drei Wochen vorher (okay!), zwei Wochen vorher (na ja!) oder am Tag vorher (Katastrophe!). Ich weiß nicht, ob es eine Vorbereitungsphase gab ohne lästiges Infektchen. Und nein, ich meine keinen fiebrigen Infekt, der bedeutet zur rechten Zeit das sichere Aus, nein, ich meine den Männerschnupfen, die psychologische Entzündung der Nase, des Halses oder der Lungen.

Man erwacht nachts schwitzend, hat morgens ein Kratzen im Hals, fühlt sich schwach, so schwach, so erbärmlich schwach. War da nicht auch ein Husten? Und warum juckt die Nase innen? Und die Stirn ist auch schon ganz heiß vor lauter Aufregung. Nein vor Panik. Panikfieber. Ich werde sofort Antibiotika, Ibuprofen, Codein und Kortison nehmen. Es gibt nichts Schlimmeres in meiner Marathonwelt, als mich jetzt zu erkälten oder zu verletzen. Nichts, gar nichts. Und deswegen kratzt jetzt der Hals. Er will mir nur sagen, schau Kleiner, ich kratz doch nur ein bisschen. Das hält dich von gar nichts ab. Nicht vom Training, nicht vom Schlafen, nicht vom Wettbewerbserfolg. Ich will dir nur zeigen, dass ich noch da bin, dass du noch was merkst und dass ich dann nach dem Wettkampf aber wirklich etwas mehr Beachtung verdiene. In Vertretung des ganzen Körpers kratze ich an deiner Tür und sage: „Wir unterstützen dich noch bis genau Sonntag in einer Woche, dann sind wir dran.“

Das verstehe ich. Natürlich habe ich mir immer Mühe gegeben, den Hals und den Kopf und den Bauch und die Beine und alles mit möglichst wenig Gift zu belasten. Kein Alkohol, keine Zigarren, kein Zucker, nur gutes Essen, viel Ruhe. Aber das tägliche Training mit etwa 120 Kilometern pro Woche in teils ungesundem Tempo ist schon auch giftig. Ich verspreche es hoch und heilig. Nach dem 27. September gibt es viele Tage ohne Training. Dazwischen gibt es Tage, an denen ich einfach 60 Minuten locker jogge. Echt. Das mache ich. Indianerehrenwort. Und Fahrradfahren. Das ist doch auch nett für die Gelenke. Balsam für den geschundenen Körper. Und psssst: mir macht das auch manchmal viel mehr Spaß als Laufen … Also Deal. Hals kratz, ich habe verstanden.

Am Sonntag fiel mir wieder keine richtige Ausrede ein, warum ich 14 Sekunden zu langsam war. Jetzt habe ich sie gefunden: Ich wollte meinen Körper schonen. Und deswegen kratzt der Hals nur ein bisschen. Aber morgen lieber Hals, morgen müsste ich nochmal kurz. Es ist echt wichtig. So 10 Tage vorm Marathon. Da muss man nochmal richtig hart ran. 1,2,3,2,1 km in 3:30, 7:00, 10:30, 7:00, 3:30 min. Aua. Ich würde es doch auch lieber lassen, aber ich muss. Hab ein Erbarmen. Ich verspreche dir viele lauffreie Tage. Mein Schweinehund verbürgt sich dafür.

Heute war ein guter Tag

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Und zwar deswegen, weil beim Sohn meines guten Freundes keine Leukämiezellen mehr nachweisbar sind. Bei solchen Nachrichten wird mir immer ganz schnell klar, was für einen unwichtigen Affentanz ich da veranstalte. Intervalle: Aua, Kraftausdauer: Lass Abend werden, LSD: Geh rum, Wettkampf: Geh rum, aber in der befohlenen Zeit. Das ist es. Nicht mehr. Egoistisches, narzisstisches Erfolgsgejage. Niemanden interessiert’s und das zu Recht.

Kleine Kinder kriegen tödliche Krankheiten, Familien müssen Lebensveränderungen durchstehen und trotzdem das gewohnte Leben weiterführen, dem Bruder des Kranken und ihnen selbst zuliebe. Das ist ein Kraftakt, den man nur erahnen kann als Unbeteiligter. Ich ziehe meinen Hut und beende für heute. Aus Respekt vor allen wichtigen Sachen, die auch der kleine Sohn glücklicherweise erleben darf.